„Dass ich das erleben darf, hier zu Hause!“

Denn der Oberreitnauer und Neu-Stuttgarter hatte im Finale an den ersten beiden Geräten - Pferd und Ringe - geturnt und dann zugeschaut, angefeuert, abgeklatscht, gelobt, einfach mitgelitten bis zum glücklichen Ende.

 

    Thomas Andergassen nach seiner Übung am Seitpferd

 

 „Als ich vom Boden kam und Thomas mir in die Augen geschaut hat, da wusste ich, das war es“, sagte Fabian Hambüchen.

Fabian war der letzte Turner der letzten Riege gewesen und waren es seine Spitzenleistungen am Sprung, den er als Fünftbester absolvierte, am Boden (Vierter) und vor allem am Reck, die seine Mannschaft in Hochstimmung versetzten.

 

Die Halle schien aus den Fugen zu geraten

In einem Mannschaftsfinale der WM gilt das System 6-3-3; sechs Turner pro Team, drei davon an jedem Gerät, alle drei Wertungen werden gezählt, ohne Streichnote.

Während Andergassen, Spiridonov, Juckel und Boy bereits unter dem Jubel der begeisterten Zuschauer ohne Fehler an Pferd und Ringen den Grundstein legten, fieberte Fabian Hambüchen seinem ersten Gerät entgegen.

 

 Thomas Andergassen an den Ringen.

 

Als Fabian dann beim Sprung zum ersten Mal an das Gerät ging, schien die Halle ganz aus den Fugen zu geraten. Die Zuschauer, die einen ohrenbetäubenden Lärm veranstalteten und schwarzrotgoldene Fahnen schwenkten, wollten ihn und seine Mannschaftskameraden am liebsten über alle Geräte tragen.

Und nahezu fehlerfrei absolvierten die Deutschen ihren Wettkampf. Schon wie in der Qualifikation am Dienstagabend, die sie ebenfalls auf Platz drei beendet hatten, patzten die Konkurrenten, und plötzlich wurde greifbar, was eben nur im Traum - dem von Andreas Hirsch, dem der Turner selbst - möglich schien. Vor dem Reck, dem vorletzten Gerät der Deutschen, wurde schon gerechnet auf den Tribünen.

Fabians Weltklasseübung, würde im Idealfall den notwendigen Schritt in Richtung Medaille bedeuten. Doch zunächst ging Philipp Boy ans Gerät - und nach 42 Einzelübungen deutscher Turner bei der WM in Stuttgart kam der erste Sturz.

Beim Abgang landete Boy auf allen vieren. Den Zuschauern stockte der Atem, „das war's“. Nur einen Moment dauerte das Entsetzen, Robert Juckel, der in der Konzentration für seine Übung nichts mitbekommen hatte von Boys Missgeschick, turnte fehlerfrei, reckte die Faust zur Decke und jubelte schon.

 

 

 

Dann lagen Sie sich in den Armen

Mit Hambüchens 16,125 Punkten - der Höchstwertung an diesem Gerät, einen halben Punkt besser als der Nächste, der Japaner Mizutori - war vor dem Bodenturnen klar: Deutschland, Korea oder Russland würden Bronze gewinnen. Die Koreaner verturnten alle drei ihre Ringeübung, die Russen patzten am Pferd. Und Philipp Boy, der tieftraurig am Rand gesessen und sich schon als Spielverderber gesehen hatte, hüpfte plötzlich wie aufgezogen auf und ab. Es bedurfte nicht mehr der Bestätigung durch den Hallensprecher, der Leuchtschrift auf der Anzeigetafel, um die große Welle auszulösen.

Sie lagen sich alle in den Armen, Präsident, Sportdirektor, Ulla Koch, die Frauen-Cheftrainerin, Dr. Hans-Peter Boschert, der Mannschaftsarzt. Physiotherapeutin Miriam Appel schluchzte. Andreas Hirsch und Wolfgang Hambüchen schienen sich gar nicht mehr loslassen zu wollen: zwei Trainer, die wussten, wie viel Arbeit, wie viel Qual hinter diesem Erfolg steckte; die auch gemeinsam mit dem Dritten im Bunde, Gunter Schönherr, in den vergangenen Wochen die Weichen gestellt hatten.

 

Die Deutsche Mannschaft mit Ihren Betreuern

 

 

 

Die eigentlichen Pole, die sich im DTB aufeinander zu bewegen, befinden sich aber hinter den Kulissen. Als die Turner am Dienstagabend vor die Presse traten, wurde gegenseitig gratuliert, nachgejubelt, präsidial resümiert und allen möglichen nicht anwesenden Mitstreitern gedacht


Hirsch hat in dieser Vorbereitung uneingeschränkt alles richtig gemacht.

Stützpunkttrainer erkennen den Wert einer Mannschaft an, die besser wird, wenn sie zusammen trainiert und manchmal auch zusammen lebt. Dafür wurde in der letzten WM-Vorbereitung in Kienbaum der Tagesplan korrigiert. ,,Alle zwei, drei Tage hatten wir einen halben Tag frei‘‘, sagte Fabian Hambüchen, ,,da kam man mal raus aus Kienbaum.‘‘ Die Trainingsumfänge waren geringer, das Üben gezielter, und die Turner mussten nicht mehr morgens um sieben zum Joggen: Der Frühsport wurde abgeschafft.


Nicht nur das intensive Training, auch die mentale Vorbereitung der Riege, die gute Stimmung haben das Team stark gemacht und es dahin gebracht, wohin es an diesem Donnerstag als Zuschauer kommen wollte, auf jeden Fall: auf die „Medal Plaza“ im Herzen von Stuttgart, auf den Schlossplatz, auf dem vor Hunderten begeisterten Fans den deutschen Turnern endlich einmal wieder eine Medaille umgehängt wurde.

 

Irgendwann kommt jedes Geheimnis an den Tag: „Es ist“, sagte Andreas Hirsch wie in sich gekehrt, „der gelebte Traum.“ Sein Traum, den er zwei Tage zuvor nicht hatte preisgeben wollen: Die deutschen Turner haben bei den Weltmeisterschaften in Stuttgart am Donnerstagnachmittag die Bronzemedaille im Mannschaftswettbewerb gewonnen.

Deshalb schimmerten die Augen des Cheftrainers immer noch feucht, als er versuchte, seine Gedanken zu ordnen und zu realisieren, dass es kein Traum war, was eine halbe Stunde zuvor passiert war.

 

Die Qualifikation:

Die Mannschaft des Deutschen Turnerbundes (DTB) hat alle Erwartungen übertroffen. Sie wollte am Dienstagabend in der Mannschaftsqualifikation Zwölfter werden, hatte mit Platz acht - dem Finaleinzug - geliebäugelt und landete auf Rang drei. "Ich weiß, das klingt jetzt blöd, aber wir wollten eigentlich erst Mal Zwölfter werden‘‘, hatte Thomas Andergassen vorher gesagt. Es war aber ernst gemeint, mit so einer Dynamik im Team, so einer glatten Fahrt durch den Abend konnten sie nicht rechnen, sie hatten das ja noch nie erlebt.

Thomas Andergassen musste an 4 Geräten sein Können beweisen. Herausragend seine Ringeübung

 

   

 

                  

                                                              Thomas am Seitpferd

 

Riesige Steigerung seiner Schwierigkeiten am Reck.   

Auch am Barren eine solide Vorführung. Ausgerechnet sein Paradegerät das Pferd bockte wieder. Aber kein Abstieg, nach einer tollen Übung eine Drehung beim Abgang zu wenig. Aber das war nach dem erreichten dritten Platz in der Qualifikation kein Thema. Hauptsächlich die Quali für Peking war erreicht und dann diese Leistung der Mannschaft.

 

"Ich denke, wenn diese grandiose Atmosphäre noch einmal übertroffen wird, dann ist alles drin. Wir werden kein Risiko gehen und nur versuchen, unsere Übungen noch einmal stabil zu präsentieren", hofft Hambüchen, der im Team-Finale auf keinen Fall an seinem "Zittergerät", dem Pferd, zum Einsatz kommen wird. "Bei dieser Atmosphäre traut sich gar keiner, auf die Schnauze zu fallen", meinte der Cottbuser Robert Juckel augenzwinkernd, und Thomas Andergassen kündigte an: "Wir werden die Halle rocken." Dabei lässt sich der Lokalmatador auch von Ermahnungen des Weltverbandes nicht schrecken.

 

 

 

 

 

 

Immer hatte es Lieblingsgeräte gegeben, und solche, an denen wieder alles vertan zu sein schien. Dieser Auftritt zeigte aber keinen Makel. Es gab Höhepunkte wie die gelungene 16,025-Punkte-Reckübung Hambüchens. Der 19-Jährige führt an diesem Gerät die Konkurrenz an und hat Chancen auf Gold. Oder der zweimal überschlagene und einmal geschraubte Barrenabgang des Unterhachingers Marcel Nguyen, zudem die tolle Ringevorführung des Stuttgarters Thomas Andergassen. Doch die Höhepunkte gaben diesmal nicht den Ausschlag, sondern die Verlässlichkeit jeder einzelnen Bewegung. Die früher klaffende Lücke zwischen brillant und mangelhaft ist schmäler geworden, und am Pauschenpferd konnte man sehen, wie sich alle auf einem Level treffen.

Für die Prüfung auf dem Pferderücken hatten die Deutschen Extraeinheiten eingelegt, sie mutieren auf dem Pferderücken zu Zirkeln. Beine, Hüfte und Rumpf gerade wie ein Stift, drehen ihre Kreise maßgerecht, als würden sie von einer großen Hand geführt und alle sind oben geblieben auch Thomas hatte sein Lieblingsgerät bestens in Griff. Das Pferd war der vorletzte Durchgang und danach hatten sie ihr Gesamtziel nahezu erreicht. Sie marschierten weiter, grinsten - sechs Individualisten, die sich angenähert haben.

Allgemeine Begeisterung


Derweil wiederholte der 27 Jahre alte Stuttgarter Thomas Andergassen, der an den ersten beiden Geräten zum Zug kam und sich dann als Anpeitscher verdingte, immer wieder: »Ich kann's einfach nicht glauben. Dass ich das miterleben darf, ist hammergeil.« Der Medaillengewinn fällt in den Zenit seiner Sportlaufbahn, die er mit einer dann hoffentlich ebenfalls erfolgreichen Olympia-Teilnahme 2008 krönen möchte.

Dass ich das erleben darf, hier zu Hause!“

Thomas Andergassen, als Athlet ähnlich hoch veranlagt wie Hambüchen, als Wettkämpfer aber weniger selbstbewusst, gibt zu, dass es ihm imponiert, "wie Fabian hier seine Pflichten abarbeitet".

„Ich glaube das alles nicht“ - „Ich denke, ich bin in einem Film“ - „Ist das wirklich wahr?“: Irgendwie glichen sich die ersten Reaktionen, als Thomas Andergassen, Philipp Boy, Fabian Hambüchen, Robert Juckel, Marcel Nguyen und Eugen Spiridonov ihren Erfolg erklären sollten. „Dass ich das erleben darf, hier zu Hause!“, sagte Andergassen, der Zeit genug gehabt hatte, sich auf den schönsten aller anzunehmenden Fälle vorzubereiten.
Die Halle schien aus den Fugen zu geraten

 

 "Motivator" Andergassen
 
Hambüchen bedankte sich ganz ausdrücklich bei seinem Teamkollegen Thomas Andergassen: „Er war unser Motivator.“ Der Stuttgarter Lokalmatador, der an den ersten beiden Geräten eingesetzt wurde, trieb die Mannschaft immer wieder nach vorne, obwohl ihm das Zugucken unendlich schwer fiel: „Ich hätte lieber weiter mitgeturnt.“
Quasi zur Untermalung des fröhlichen Schauspiels in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle wurde die DTB-Riege vom Publikum mit „Deutschland, Deutschland“-Rufen und zahllosen geschwenkten schwarz-rot-goldenen Fahnen gefeiert. Und noch eine halbe Stunde nach dem Wettkampf forderten die überwiegend weiblichen Fans: „Wir wollen die Mannschaft sehen.“